Deutschland wird noch heute gerne als „Land der Dichter und Denker“ bezeichnet. Der Ausdruck geht auf das 19. Jahrhundert zurück und verweist darauf, wie stark sich das Land über seine literarischen und philosophischen Denker definiert[1]. Mit dem Siegeszug der Industrialisierung hat sich das Bild jedoch verschoben: aus dem Land der Geistesgrößen wurde ein Land der Hersteller von Bauteilen, Maschinen und Automobilen. In diesem Wandel spiegelt sich eine tiefgreifende Veränderung der Wertschöpfung – weg vom reinen Wissen, hin zu industrieller Produktion.
Vom Geist zur Fabrik: Industrialisierung und ihre Folgen
Die industrielle Revolution, der Aufbau der Maschinen‑, Chemie‑ und Elektrotechnik sowie der Aufstieg des Automobils machten Deutschland zu einem der wichtigsten Fertigungsstandorte der Welt. 2024 stammten 19,7 % der deutschen Bruttowertschöpfung aus dem Verarbeitenden Gewerbe[2]. Der Umsatz der Industrie lag bei rund 2.900 Mrd. €, wobei die Automobilindustrie mit 476 Mrd. € führend war[3]. Neben dem Fahrzeugbau dominieren der Maschinen‑ und Anlagenbau, die Chemie‑ sowie die Elektroindustrie – zusammen beschäftigen sie Millionen Menschen[4].
Gerade das Auto prägt das Bild deutscher Wertschöpfung. Seit Carl Benz 1886 das Automobil erfand, sind Marken wie Mercedes‑Benz, BMW, Volkswagen, Porsche und Audi zum Synonym für deutsche Ingenieurskunst geworden. Die Branche gilt als zentrale Säule der deutschen Wirtschaft[5]. 2023 erwirtschaftete der Automobilsektor 564 Mrd. € Umsatz, wovon 171 Mrd. € auf den Heimatmarkt entfielen, und beschäftigte rund 780.000 Menschen[6]. Darüber hinaus arbeiten Hunderttausende in angeschlossenen Bereichen wie Händlern, Werkstätten oder den Auslandswerken der Hersteller[7].
Dieses industrielle Ökosystem stützt sich auf eine starke Zuliefererindustrie: Unternehmen wie ZF Friedrichshafen, Bosch, Continental und Schaeffler liefern Schlüsseltechnologien und gehören weltweit zur Spitze[8]. Export ist das Lebenselixier: 2022 lag die Exportquote der Industrie bei 48,7 %, Motor‑ und Fahrzeugteile stellten mit 262 Mrd. € und einem Anteil von 16,9 % die wichtigsten Exportgüter dar[9].
Digitalisierung: Autos werden Computer und Fabriken datengetrieben
Im Zuge der digitalen Transformation haben Fahrzeuge und Fabriken einen weiteren Wandel durchlaufen. Autos sind längst zu „Computern auf Rädern“ geworden: immer größere Displays, personalisierte Apps und KI‑basierte Fahrerassistenzsysteme prägen die neuesten Modelle[10]. BMW präsentierte auf der CES 2025 ein Panoramic iDrive System, das Inhalte über die gesamte Windschutzscheibe projiziert, während Mercedes mit dem Hyperscreen eine gebogene Glasfläche einsetzt[11]. Mit der Vernetzung wächst auch der Softwareanteil – viele der früher mechanischen Komponenten werden durch Code ersetzt.
Diese Digitalisierung beschränkt sich nicht auf das Auto. In den Fabriken halten Automatisierung und künstliche Intelligenz Einzug. Unternehmen wie Bosch entwickeln KI‑basierte Systeme für Fahrerassistenz[8], und das mechanische Engineering investiert jährlich Milliarden in Forschung und Entwicklung[12]. Dadurch werden Prozesse effizienter, Produkte intelligenter – aber sie verändern auch die Rolle der Menschen: Routineaufgaben werden maschinell erledigt, während kreative und analytische Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen.
Künstliche Intelligenz als Game‑Changer: Weniger Entwickler, mehr Kreative?
Die rasanten Fortschritte bei generativer KI verändern derzeit das Berufsbild im IT‑Bereich. Eine Studie des MIT Sloan School of Management untersuchte den Einsatz eines KI‑basierten Coding‑Assistenten bei drei Technologieunternehmen: Unerfahrene Entwickler steigerten ihre Produktivität um 27–39 %, während erfahrene Entwickler lediglich um 8–13 % zulegten[13]. Die Autoren betonen, dass eines der möglichen Szenarien darin besteht, die gleiche Arbeit mit der Hälfte der Belegschaft zu erledigen – durch generative KI können Unternehmen also kleinere Teams beschäftigen und trotzdem dieselbe Leistung erbringen[14].
Die Marktforscher von McKinsey sehen in dieser Entwicklung einen grundsätzlichen Wandel: Die Zahl der Mitarbeitenden, die generative KI nutzen, wird stark steigen und viele Menschen werden so von Routineaufgaben befreit, um sich auf höherwertige kognitive Arbeit zu konzentrieren[15]. Interessanterweise wünschen sich gerade heavy‑User von Gen‑AI mehr kognitive und sozial‑emotionale Kompetenzen – kritisches Denken und Entscheidungskompetenz seien wichtiger als zusätzliche technische Skills[16]. McKinsey folgert, dass Führungskräfte durch den gezielten Einsatz von KI Arbeit humanisieren können, indem sie Menschen von repetitiven Aufgaben entlasten und kreative, kollaborative und innovative Tätigkeiten ermöglichen[17].
Pendelbewegung: Zurück zu Denkern und Gestaltern
Betrachtet man diese Trends, zeigt sich eine faszinierende Pendelbewegung. Deutschland hat sich von einem Land der Geisteswissenschaften zu einer Industriemacht mit global erfolgreichen Herstellern entwickelt. Heute droht diese industrielle Stärke zu erodieren: Die Automobilbranche steht unter Druck, etwa durch Elektromobilität und internationale Konkurrenz, und die Produktion verlagert sich zum Teil ins Ausland. Gleichzeitig ermöglicht Künstliche Intelligenz den Aufbau neuer Wertschöpfungsmodelle, die weniger auf Masse und mehr auf Ideen, Kreativität und Problemlösung setzen.
Statt Dutzende von Entwicklern zu beschäftigen, wird künftig eine kleine Gruppe hochqualifizierter Fachkräfte ausreichen, die in der Lage sind, mit KI‑Werkzeugen umzugehen, neue Geschäftsmodelle zu erdenken und strategische Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet nicht, dass die Macher überflüssig werden – im Gegenteil: Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik bleiben wichtig, wie die Investitionen in Forschung und die hohe Beschäftigung zeigen[4]. Doch im IT‑Bereich und in vielen Dienstleistungsbranchen wird der Wert des Denkens wieder zentral. Wer Kreativität, Empathie, Ethik und systemisches Denken beherrscht, hat einen Wettbewerbsvorteil gegenüber rein mechanischen Fähigkeiten.
Ausblick: Chancen nutzen
Der aktuelle Wandel eröffnet Chancen für Deutschland:
- Bildung und Umschulung: Das duale Ausbildungssystem gilt weltweit als vorbildlich[18]. Es sollte um digitale Kompetenzen und kreative Methoden erweitert werden, damit Fachkräfte sich an KI‑gestützte Arbeitswelten anpassen können.
- Investitionen in Forschung und KI: Der Erfolg der Zulieferer zeigt, dass Innovationskraftentscheidend ist. Um nicht zum reinen Nutzer ausländischer Plattformen zu werden, muss Deutschland weiter in KI‑Forschung investieren und eigene Geschäftsmodelle entwickeln.
- Kultur des Experimentierens: Kreativität gedeiht dort, wo Fehler erlaubt sind und interdisziplinäre Teams zusammenarbeiten. Unternehmen sollten Raum für „Dichter und Denker 2.0“ schaffen – Menschen, die Ideen entwickeln, hinterfragen und mit Maschinen umsetzen.

Fazit
Der Begriff „Wertschöpfung im Wandel“ beschreibt mehr als einen ökonomischen Trend – er fasst den historischen Bogen von Gedankengut über Maschinen zur digitalen Kreativität zusammen. Deutschland hat bewiesen, dass es Dichter hervorbringen und Autos bauen kann. Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz gilt es, diese Fähigkeiten zu vereinen: technische Exzellenz und kreatives Denken. Nur wenn die Macherund die Denker zusammenwirken, wird das Land auch künftig weltweit Maßstäbe setzen.
[1] Culture of Germany - Wikipedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Culture_of_Germany
[2] [3] [4] [9] [12] [18] Germany’s industry: the most important facts and figures
https://www.deutschland.de/en/topic/business/germanys-industry-the-most-important-facts-and-figures
[5] [6] [7] [8] [10] [11] German automotive industry, economy, cars, Germany
https://www.deutschland.de/en/topic/business/german-automotive-industry-economy-cars-germany
[13] [14] How generative AI affects highly skilled workers | MIT Sloan
https://mitsloan.mit.edu/ideas-made-to-matter/how-generative-ai-affects-highly-skilled-workers
[15] [16] [17] Building generative AI employee talent | McKinsey